Pfeifen verboten!
Über uns wirbeln sie wie magische Bänder aus einer anderen Welt. Ein Wandteppich aus Violett-, Grün- und Rottönen schimmert über dem dunklen Himmel – das sind die unvergleichlichen Nordlichter! Der fesselnde Anblick auf das funkelnde Himmelsspektakel lässt einen selbst ganz klein und unscheinbar vorkommen. Es fällt leicht, im pulsierenden Tanz der Aurora Geschichten – sogar ganze Welten – zu sehen. Indigene Völker lassen sich seit Tausenden von Jahren vom kosmischen Schauspiel inspirieren und tragen die verschiedensten Legenden von Generation zu Generation weiter.
Aurora-Sagen
Als Gerry Kisoun noch ein kleines Kind war und im riesigen, nahezu unberührten Mackenzie-Delta in den Northwest Territories aufwuchs, ermahnten ihn seine Eltern bloß nicht mit den wirbelnden Lichtern am Himmelszelt zu spielen. Und vor allem: nicht nach ihnen zu pfeifen! Einer Sage nach, würden die Lichter sonst nämlich herunterkommen und ihm den Kopf abschneiden, um damit Fußball zu spielen. Kisoun, der heute Guide von Tundra North Tours ist und zu den Ältesten der Inuvialuit und Gwich’in zählt, erinnert sich noch gut daran, wie diese Geschichte seine Kindheit und Teenager-Zeit geprägt hat. „Als wir doch mal mutig gepfiffen haben und sich am Himmel etwas getan hat, sind wir ganz schnell nach Hause gerannt.“
Die Dene der Northwest Territories führen den Ursprung der Aurora hingegen auf ein Feuer zurück, das einst vom Erdschöpfer entzündet wurde. Man glaubt, dass sie am Himmel bleiben, um daran zu erinnern, dass er noch immer über die Welt wacht.
Der Legende der Cree zufolge sind die Polarlichter die Geister der Toten, die am Himmel erscheinen und versuchen mit ihren Lieben hier auf der Erde zu kommunizieren.
Inuvialuit-Legenden, wie die, mit denen Kisoun aufgewachsen ist, besagen ebenfalls, dass die Lichter die Schatten der einst Lebenden sind, die mit einem Walrossschädel – oder auch einem menschlichen Kopf – Ball spielen.
Manche sagen, der Geist, den man in der Aurora tanzen sieht, sei ein enges Familienmitglied oder ein Freund, der von uns gegangen ist. Joe Bailey, ein gebürtiger Nordstaatler und Betreiber von North Star Adventures glaubt, dass sie eine wichtige Botschaft an die Hinterbliebenen senden: „Mir geht es hier oben gut. Kein Grund, traurig zu sein. Genieße dein Leben, tue Gutes und eines Tages werden wir uns wiedersehen.“
Er erinnert sich noch gut, wie er mit einem Gast aus den USA unter der prächtigen Aurora stand und von dieser Legende erzählte, als sie plötzlich in Tränen ausbrach. Sie berichtete, dass sie die Reise zu den Nordlichtern eigentlich mit ihrer besten Freundin unternehmen wollte, sie erst kürzlich an Brustkrebs verstorben war und gab zu „Joe, was du da beschreibst - genau das habe ich hier gefühlt!“.
Was „wirklich“ dahinter steckt
Wissenschaftlich gesehen handelt es sich bei der Aurora Borealis um elektronisch geladene Teilchen, die beim Auftreffen auf die Erdatmosphäre farbig aufflackern. Aber diese wissenschaftliche Definition reicht bei weitem nicht aus, um das magische Phänomen zu beschreiben. Die Nordlichter werden in Sonnenstürmen aus dem Herzen der Sonne geboren und explodieren mit einer Geschwindigkeit von bis zu drei Millionen Kilometern pro Stunde in Richtung Erde. Sie hüpfen hier über den Himmel und tanzen in einem glühenden Schauspiel aus dynamischen Farben.
In den Northwest Territories kommt man an unglaublichen 240 Nächten pro Jahr in den Genuss der Aurora – also in fast jeder einzelnen Nacht im Spätsommer, Herbst, Winter und frühen Frühling. Warum sind sie ausgerechnet hier so häufig zu sehen? Weil die Northwest Territories einen kristallklaren Himmel und eine extrem niedrige Luftfeuchtigkeit haben und perfekt unter dem Band maximaler Aurora-Aktivität, unter Astronomen als Aurora-Oval bekannt, liegen. Nicht umsonst ist Yellowknife die stolze „Aurora Capital of the World”.
Magische Aurora
Das ist es also, was Reisende aus der ganzen Welt anlockt! Gerry Kisoun erinnert sich an ein australisches Paar, das er vor einigen Jahren durch das Delta führte. Trotz eisiger Temperaturen von -40°C konnten sie sich an der eindrucksvollen Lichtershow über ihnen nicht sattsehen und legten sich kurzerhand für eine halbe Stunde direkt in den Schnee. „Morgen wärmen wir uns wieder auf“, sagten sie zu ihm.
Als Teenager, der mit seinem Hundeteam durch das Delta reiste, sah Kisoun schon oft Nordlichter. Er ist mit ihnen aufgewachsen, aber sie wurden niemals alltäglich. Noch heute spürt er etwas Spirituelles, wenn nach oben in den leuchtenden Himmel schaut. Etwas Wahres. „Ich denke einfach: heute ist ein guter Tag, um zu leben.“ Das ist der wahre Zauber der Aurora!